Ein Artikel in der SZ v. 15./16.11.2008, unter „ Außenansicht“ von Stefan Rebenich erinnert an den griechischen Historiker Thukydides und zitiert aus dessen Darstellung des Peloponnesischen Krieges ( Peloponnesischer Krieg, Krieg von 431 bis 404 v. Chr. zwischen Athen und dem Attischen Seebund Delischer Bund auf der einen und Sparta auf der Gegenseite) wie folgt:
„ Sie änderten die gewohnte Bezeichnung für die Dinge nach ihrem Belieben. Unreflektierte Risikobereitschaft galt als Mut und als Loyalität den eigenen Leuten gegenüber, Zögern mit Blick auf die Folgen des eigenen Handelns als aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit als Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit als alles lähmende Schlaffheit, und wildes Draufgängertum hielt man für die Art ganzer Kerle. Wer immer schimpfte und mit nichts zufrieden war, galt als glaubwürdig, wer aber widersprach, für verdächtig.
Wenn einer mit einem hinterhältigen Schachzug Erfolg hatte, wurde er als klug angesehen, und es war ein Zeichen noch größerer Klugheit, einen Angriff rechtzeitig zu durchschauen. Wer sich aber selbst vorsah, um nichts mit diesen Dingen zu tun zu haben, von dem hieß es, er fürchte sich vor den Gegnern. Denn lieber lassen sich die meisten Menschen einen gewitzten Halunken nennen als einen anständigen Dummkopf. Des einen schämen sie sich, aber mit dem anderen geben sie an“.
Weiter heißt es in dem Artikel:
„ Die Auseinandersetzung beendete eine fast 50-jährige Phase des Wohlstands, die nach dem griechischen Sieg über die Perser 480/479 v.Chr. fast ganz Hellas erfasst und die demokratische Polis von Athen zum überragenden politischen und kulturellen Zentrum gemacht hatte.
Thukydides beschreibt die Pathologie dieses Krieges…..Es hat die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur zum Gegenstand, und es versetzt den Leser in die Lage, politische Entwicklungen zu erkennen und zu beurteilen. Thukydides misstraut den sozialen und politischen Eliten zutiefst. Seine Anthropologie ist negativ. Den Glauben an die moralische Überlegenheit der verantwortlichen Akteure hat er längst verloren. Egoistisch ist das Handeln aller.
Rechtliche oder moralische Argumente dienen allein der Verschleierung des rücksichtslosen Machtstrebens. Destruktives Handeln hat seinen eigentlichen Grund in dem unbändigen Drang des Einzelnen nach höherem Ansehen und größerem Besitz, griechisch gesprochen in der philotimia und der pleonexia. Dieser Drang gipfelt in dem Bedürfnis, in einer Gesellschaft, deren Prinzip der Wettbewerb ist, immer der Erste zu sein. Philonikia nannten das die alten Griechen. Aus persönlicher Gewinnsucht und persönlichem Ehrgeiz schadeten die nur auf ihren eigenen Vorteil bedachten Individuen dem Gemeinwesen. Manche behaupteten gar, das Gerechte sei nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren.
Diese Argumentation ist uns heute nicht fremd. Die neoliberalen Apostel der reinen Marktwirtschaft führen sie auf den Lippen. Will man Erfolg haben, muss man sich gegen altruistische Anwandlungen desensibilisieren. Der smarte Politiker und der clevere Manager verdienen gleichermaßen an der Katastrophe – bei dem einen steigen die Umfragewerte, bei dem anderen die Aktienkurse. Streben nach Macht und Einfluss, nach Bereicherung und Anerkennung verbinden sie beide……
Thukydides zeigt durchaus einen Ausweg: Die Zerstörung des Gemeinwesens durch materielle Selbstsucht und materielle Gier kann überwunden werden- durch politisch verantwortungsvolles Agieren und Reagieren einzelner Individuen, die ihr Handeln an den geschriebenen Gesetzen und den ungeschriebenen Normen der Demokratie ausrichten…..
Soweit der zitierte Artikel.
Wie aber kann eine derartige Änderung der Verhältnisse erreicht werden?!
Offensichtlich hat sich im Wesentlichen seit der Zeit des Thukydides vor nahezu 2500 Jahren wenig geändert, weder an der Natur des Menschen, an der Art der Politiker, die das Sagen haben etc.
Die Erkenntnisse des Historikers Thukydides dürften zu allen Zeiten Beifall gefunden haben bei vielen intelligenten Mitmenschen. Viele Kanzelpredigten christlicher Geistlicher dürften diese Thematik angesprochen und auf die Gemeindemitglieder im Sinne dieser Erkenntnisse eingewirkt haben. Ohne Erfolg.
In Zeiten der Demokratie, in denen alle Gewalt vom Volke ausgeht, müsste das Volk doch in der Lage sein, das Gemeinwesen nach seinen wohlverstandenen Interessen zu gestalten!
Wenn dieses Ziel bisher nicht erreicht werden konnte, stellt sich die Frage, ob und wie unsere Demokratie verbessert werden muss, um das Gemeinwesen vor Fehlentwicklungen zu schützen, die sich in der Geschichte immer wiederholt haben?
Der Versuch einer Antwort: Wir sind falsch organisiert.
Falsch organisiert, um die Macht, die wir mit unserer Wahlstimme verleihen, angemessen zu kontrollieren. Um bei der Auswahl der Politiker vor der Wahl mitzubestimmen. Um die Ziele der Politik, unsere eigenen wohlverstandenen Interessen, selbst zu definieren und zu verfolgen.
Heute ist es doch so, dass alle politischen Ziele und Wahlkandidaten von den Parteien, den Medien und Verbänden vorgegeben werden. Während diese Gruppierungen gut organisiert sind, bleibt der einzelne Wähler auf sich allein gestellt, ein leicht zu manipulierender Individualist.
Entsprechend schwach ist die Position des Wählers nach der Wahl: Kontrolle findet nicht durch ihn, sondern bestenfalls innerhalb der Parlamente statt; weitgehend außerhalb der Wahrnehmung durch die Wähler.
Selbst auf Gemeindeebene sieht die Sache nicht viel anders aus. In unserer Verfassung ist die Gemeinde als kleinste Gebietskörperschaft beauftragt, ihre lokalen Aufgaben und Probleme in Eigenverantwortung zu übernehmen. Quasi als Grundschule der Demokratie für die Bürger.
Genau so, wie der Schulbesuch die Schüler in die Lage versetzt, Lesen und Schreiben sowie die Grundkenntnisse für das spätere Leben in der Gesellschaft und im Beruf zu erwerben, sollte die politische Mitwirkung in den Gemeinden das Rüstzeug liefern für die Spielregeln und die Teilhabe an der Demokratie.
Macht übt auch in einer Demokratie nur derjenige aus, der viele Wahlstimmen auf sich vereinigen kann.
Wichtig ist deshalb, bereits bei der Auswahl der Kandidaten mitzuwirken, damit Einfluss auf die Inhalte genommen werden kann, für die der Kandidat stehen soll.
Demokratie überlassen wir heute den Parteien. Die sollen es inhaltlich und personell richten, dann passt es schon. Das macht zwar wenig Mühe für den Wahlbürger, schließt ihn aber zwangsläufig aus bei der Mitsprache über Inhalt und Leute, die seine Interessen vertreten sollen.
Wenn ich mich aus diesen wichtigen Vorbereitungen der Wahl heraushalte, da mir der Zeitaufwand für eine Auseinandersetzung mit politischen Inhalten und Akteuren zu hoch ist, darf ich mich anschließend auch nicht aufregen über die da oben in Berlin oder sonst wo das Sagen haben und die Interessen der „Kleinen Leute“ missachten.
Die Folgen des passiven Verhaltens um des Freizeitgewinns oder der Bequemlichkeit wegen sind der Verlust von Einflussnahme auf das politische Geschehen, das Verschenken von Möglichkeiten, die uns die Demokratie bietet.
Die Alternative ist meines Erachtens die (freiwillige) Organisation in demokratischen Basisgemeinschaften, der Zusammenschluss der Bürger zu überschaubaren Gruppierungen.
In einer überschaubaren Gruppe – von möglicherweise 1500 Mitbürgern, im Umkreis eines Kirchturms, zum Beispiel – ließe sich demokratisches Gemeindeleben praktizieren und erlernen.
Folge: Kommunikation unter Mitbürgern, die auch jetzt eng beieinander wohnen, aber ohne Bezug zueinander; eigene Interessen vermitteln, die Interessen anderer kennen lernen, Kompromisse suchen, Wahlstimmen bündeln zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele.
Folge: Integration, Zusammengehörigkeitsgefühl, Gemeinsinn, Solidarität: Erfahrungen, die für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar sind.
Diese Folgen werden sich zwangsläufig einstellen durch regelmäßige Zusammenkünfte der Mitglieder der Basisgemeinschaften und die regelmäßige Beschäftigung mit aktuellen Fragen.